Inside China – Oliver räumt mit Vorurteilen auf und verrät seine „Hidden Gems“.

Inside China - Interview

Oliver kommt aus Basel, ist eigentlich Historiker und arbeitet als Journalist. Er ist stets vom Fernweh geplagt und dementsprechend schon viel in der Welt herumgekommen. Sein Herz schlägt jedoch für China, wo er jahrelang gelebt und das Land ausgiebig bereist hat.
Er kennt China wie kaum ein anderer und betreibt daher auch das Blog „Der Sinograph“, wo er umfassend über das „Reich der Mitte“ informiert und aus dem Nähkästchen plaudert.

Im Interview räumt Oliver mit Klischees und Vorurteilen auf und verrät Insides über das faszinierende Land.

Vielen Dank, Oliver!

 

Oliver, du hast viele Jahre in China verbracht und in Peking gelebt. Was hat dich dorthin verschlagen?

Vor etwa sechs Jahren wollte ich mir eine berufliche Auszeit gönnen und etwas Neues erleben. Ich hatte mehrere Jahre lang als Lokaljournalist gearbeitet und fühlte mich wie die sprichwörtliche ausgepresste Zitrone. Also habe ich mich eines Tages bei einer Sprachschule in Peking angemeldet. Ich kannte China von zwei früheren Reisen und wusste, dass ich mich dort wohlfühle. Ursprünglich wollte ich nur ein Semester bleiben, doch dann fand ich einen interessanten Job, sodass aus den geplanten sechs Monaten schließlich sechs Jahre wurden.

 

Seit einigen Monaten lebst du wieder in der Schweiz. Gibt es so was wie den „Afrikavirus“ auch für China?

Asien ist genauso wie Afrika ein Sehnsuchtsobjekt, dessen Name Träume auslöst. Viele verbinden mit dem Fernen Osten etwas Geheimnisvolles und Tiefes. Allerdings dürften die meisten eher an Gebiete wie Tibet, die Mongolei oder die Seidenstraße denken. Das Ansehen der Han-Chinesen ist aus politischen Gründen und einer ungünstigen Medienberichterstattung heute eher negativ behaftet. Viele haben teilweise sehr starke Vorurteile.

 

Ich gebe zu, auch ich. Bei China denke ich an Smog und Umweltverschmutzung, gesichtslose Mega-Städte, Drill, Ausbeutung und „Macht-Roboter“, die das Land regieren und unterdrücken. Ist das alles falsch?

Auf keinen Fall. Vorurteile haben an sich, dass sie oft eine aus dem Kontext gerissene Wahrheit darstellen. Das Verspeisen von Hunden ist ein gutes Beispiel: Die Vierbeiner werden hauptsächlich in einer einzigen Provinz verspeist, und auch dort nicht besonders oft. Den meisten meiner chinesischen Bekannten käme es nie in den Sinn, Hund zu bestellen. In Peking habe ich in all den Jahren nur ein einziges Mal Hundefleisch auf einer Speisekarte entdeckt – es war übrigens nicht lecker. Bei der Luftverschmutzung ist es ähnlich: Sie ist natürlich ein gewaltiges Problem, aber die Bilder, die wir in den Nachrichten sehen, sind eine Ausnahme. Es gibt auch zahlreiche klare Tage mit ähnlichen Schadstoffwerten wie in Europa und ohnehin ist nicht ganz China so schlimm wie Peking. Das habe ich hier genauer beschrieben.

Was wir häufig vergessen: China ist ein riesiges Land mit einer gewaltigen Vielfalt. Gesichtslose Megastädte gibt es, aber auch Orte wie Peking und Shanghai mit jeder Menge historischer Bausubstanz oder Städtchen wie Pingyao oder Fenghuang, die über nahezu vollständig intakte Altstädte verfügen.


Du bist selbst viel in diesem riesigen Land gereist. Ist es wirklich so schwer zu bereisen, wie man immer denkt?

Im Gegenteil: China ist meiner Meinung nach das perfekte Reiseland, nur weiß das fast keiner. Die Infrastruktur ist generell hervorragend mit zahlreichen Hochgeschwindigkeitszügen, bestens ausgebauten Straßen und günstigen Flugverbindungen. In den meisten Zielen, die Touristen besuchen, gibt es mittlerweile tolle Jugendherbergen und internationale Ketten, in denen man mit Englisch keine Probleme haben sollte. Ohnehin scheint mir die Kommunikation kein übermäßig großes Problem. Es findet sich überall jemand, der ein paar Worte Englisch spricht und gerne hilft. Mit Ausnahme von den touristischen Hotspots wird man kaum übers Ohr gehauen, was vielleicht auch damit zusammenhängt, dass China noch nicht so sehr von westlichen Touristen überrennt wird. Ich würde es so sagen: Wer unabhängig durch Thailand reisen kann, wird dies auch in China schaffen. Um dies möglichst vielen China-Interessierten klar zu machen, habe ich übrigens meinen Chinablog „Sinograph“ geschaffen.


Kann man im Land noch die Faszination des alten mächtigen Kaiserreichs mit seiner Hochkultur spüren? Wo ist es am gegenwärtigsten?

Das kann man zweifellos, wenn man Orte wie die Große Mauer oder die Verbotene Stadt besucht. Allerdings ging während der vergangenen 60 Jahre viel kaputt und das moderne China steht nur noch bis zu einem gewissen Grad für die alte Geschichte. Ich meine damit nicht nur Gebäude, die während der Kulturrevolution zerstört wurden, sondern auch die Kultur selber: Heute fühlen sich im Land viele entwurzelt und klagen über etwas, das oft mit einer chinesischen Identitätskrise umschrieben wird. Für mich ist es jedoch genau das, was die Faszination ausmacht: diese rasante Suche nach einer neuen Identität zwischen Tradition und Moderne.


Worin siehst du den größten Unterschied zu unserer Kultur oder sind wir vielleicht doch gar nicht so grundverschieden?

Ich neige dazu, die Parallelen stärker zu sehen als die Unterschiede. Einer der wichtigsten Unterschiede scheint mir der größere Wettbewerb in China zu sein. Das beginnt schon in der Schule, wo Kinder früh auf Leistung getrimmt werden – schließlich müssen sie sich ja irgendwann einmal durchsetzen können. Das führt zu einer Ellenbogengesellschaft, die mir nicht so sehr gefällt und die eigentlich auch etwas erstaunt, wo wir im Westen ja oft das Bild haben, dass in Asien generell das Wohl der Gesellschaft über dem des Individuums steht. Allerdings finde ich das auch verständlich, wenn man in Konkurrenz zu über einer Milliarde Mitmenschen steht.


Wie bist du mit den verbleibenden kulturellen Unterschieden im tagtäglichen Business umgegangen. Hast du dich weitgehend angepasst oder hat man einen Ausländer Bonus?

Den Ausländerbonus gibt es. Wir Langnasen erleben in China meistens Hochachtung. Die Leute wissen, dass wir anders ticken, und vergeben uns auch gerne den einen oder anderen Fauxpas, zumindest im privaten Rahmen. Ich hatte da eigentlich nie ernsthafte Probleme. Bei der Arbeit ist es entscheidend, welche Stelle man einnimmt. Meine Aufgabe bestand darin, eine chinesische Nachrichtenwebseite so in Schuss zu bringen, dass sie für deutschsprachige Leser attraktiv wird. Ich war deshalb in der glücklichen Lage, dass nicht ich mich anpassen musste, sondern das Produkt. Das ist aber nicht immer so. Wer seine Produkte auf dem chinesischen Markt verkaufen will, sollte sich stärker an die lokalen Geschäftspraktiken anpassen.


Du warst im Medienbereich tätig. Wie offensichtlich war für dich das Thema „Zensur“ und eingeschränkte Meinungsfreiheit?

Das werde ich oft gefragt. So überraschend es klingen mag: In der Redaktion merkte ich wenig davon, obwohl wir natürlich den chinesischen Vorschriften unterstanden. Die heiklen Themen wie Tibet, Taiwan und Tiananmen sind Fragen, bei denen die meisten Chinesen ohnehin mit den Vorgaben der Regierung übereinstimmen. Daher kam es fast nie zu Reibereien. In fast allen anderen Bereichen können Journalisten weitgehend frei berichten und zum Beispiel Korruptionsfälle oder Umweltskandale aufdecken. Die Zensur merkte ich hauptsächlich im privaten Umfeld, weil ich wichtige Websites wie Facebook oder YouTube nicht öffnen konnte und ich teilweise Probleme hatte, ins Backend meines Blogs zu gelangen.


Verrate mir doch deine persönlichen „Hidden Gems“ in China?

Ich mag in China die ländlichen Gebiete am liebsten. Zum Beispiel der Südwesten von Fujian mit den total eindrücklichen Rundbauten und einer wunderschönen Landschaft. Die ganze Gegend gilt seit wenigen Jahren übrigens als Weltkulturerbe. Kaiping in der Nähe von Hongkong ist ebenfalls grandios mit all den abstrusen Gebäuden, welche rückkehrende chinesische Emigranten vor etwa 100 Jahren gebaut hatten. Sehr schön sind auch die staubigen Überreste alter Oasenstädte an der Seidenstraße. Das Reiseland China ist wahnsinnig vielfältig und jeder dürfte seine eigenen „Hidden Gems“ finden.


Welchen wichtigen Insider-Tipp oder Ratschlags würdest du jedem China-Reisenden mit auf den Weg geben?

Wage es einfach. China ist offener und zugänglicher als du denkst.

3 comments

  • Hallo,
    als Vielreisender in China (über 12 Mal bereits in China unterwegs gewesen) hat mich natürlich dieser Artikel neugierig gemacht. Ich kann die Aussagen von Oliver bestätigen. Mich fasziniert das Land, ich mag das Essen und die Menschen sind sehr aufgeschlossen und neugierig. Und zum Beispiel mit der Bahn kann man recht bequem in China reisen.
    Im November werde ich für 3 Wochen wieder in China sein.
    Lg Thomas

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